Einführung von Maximilian Kleinert
Carl Orff (geboren am 10.7.1895 in München, gestorben ebenda am 29.3.1982) ist der Nachwelt als Musikpädagoge ein Begriff. Seine Orffschen Musikinstrumente (Klangstäbe, Xylophon, Triangel) kommen in zahllosen Kindergärten und Musikschulen zum Einsatz. Weltberühmt gemacht hat ihn seine Komposition „Carmina Burana“, die als eines der erfolgreichsten musikalischen Werke des 20. Jahrhunderts gilt. Nach der Uraufführung am 8. Juni 1937 in der Frankfurter Oper schrieb Orff an seinen Verleger, nun könne er alle bisherigen Werke einstampfen, denn dieses Werk überrage alles bisher Dagewesene.
Die mittelalterliche Textgrundlage aus dem Kloster Benediktbeuren bei Bad Tölz in Bayern wurde Mitte des 19. Jahrhunderts von Johann Andreas Schmeller herausgegeben. Es handelt sich um eine Sammlung von über 250 Liedern und Gedichten, verfasst auf Latein und Mittelhochdeutsch. Carmina ist lateinisch für Lied, Burana bezieht sich auf das Kloster Benediktbeuren. Carmina Burana heißt also: Benediktbeurer Lieder. Orff entdeckte die Sammlung in einem Würzburger Antiquitätenkatalog, bestellte sie und legte, kaum hielt er das Buch in Händen, mit dem Komponieren los. Innerhalb von drei Tagen waren die ersten drei Lieder fertig. 1956 arrangierte Orffs Schüler Wilhelm Killmayer die hier aufgeführte, vom Komponisten autorisierte und reduzierte Version für Solisten, großen gemischten Chor, Kinderchor, zwei Klaviere und Schlagzeug.
„Oh Fortuna“ – so beginnen die „Carmina Burana“ Auch wer sie nicht als Ganzes kennt, hat die ersten Takte wahrscheinlich schon als Filmmusik im Kino oder in der Werbung gehört. Sehr eindrücklich geht der gesamte musikalische Apparat in höchsten und tiefsten Lagen zu Werke und zeigt, was von der Carmina Burana erwartet werden kann: Epos, Größe, eine musikalische Naturgewalt. Die Carmina erzählen eine Geschichte von Verzweiflung, Resolution, Lust und Lebensfreude, nur um am Ende erneut in Verzweiflung zu münden.
Die ersten fünf Titel entwickeln Orffs musikalische Grundidee: Kontraste und strophige Entwicklung. Alle diese Lieder sind in drei Strophen komponiert, die sich durch Tempo, Besetzung und Lautstärke voneinander abheben.
Die ersten beiden Lieder formulieren die Klage an Fortuna und ihre unerbittliche Härte, das dritte Lied steht unter der neuen Zwischenüberschrift „Primo Vere“ (Im Frühling). Nach der Klage über die Schicksalsmacht beginnt etwas Neues. Hoffnungsvoll wird der Frühlingsbeginn eingeleitet, mit der wachsenden Zuversicht entfaltet sich auch die Musik.
„Veris leta facies“ (Frühlings heiteres Gesicht) kommt mit reduzierter Besetzung daher, der Chor (Alt mit Bass und Sopran mit Tenor im Wechsel) singt unisono, in sakralem Klang. Dieses Lied entfaltet sich wie ein zartes Pflänzchen, das eben erst erblüht. Danach folgt ein Bariton-Solo, der Klang wird noch weiter zurückgenommen. Erst mit der Nummer 5, „Ecce Gratum“, wir die Musik nach und nach wieder intensiver, schneller, lauter, die Besetzung wird größer.
„Uf dem Anger“ (Auf dem Dorfplatz) lautet die Überschrift für den nächsten Teil, der mit einem Instrumentalstück beginnt, dem „Tanz“. Allgemein haben Instrumentalstücke in chorsinfonischen Werken die Rolle einer Einleitung, hier kündigen Titel und Musik den Wechsel vom Lateinischen ins Mittelhochdeutsche an, der sich in diesem Teil vollzieht.
Harmonisch ist der Tanz einfach gehalten, die Finesse liegt in der rhythmischen Struktur. Es handelt sich um einen sogenannten Zwiefachen, in dem sich Dreier- und Vierertakt abwechseln, angelehnt an die Tänze der bayerischen Volksmusik. Das Stück erweitert diese rhythmische Verschiebung innerhalb einer simplen ABA-Struktur ab dem B-Teil, indem es die ohnehin schon komplexe rhythmische Struktur des Zwiefachen durch einen unterlegten Zweier-Grundpuls ergänzt. Orff greift hier also traditionelle Musik auf und vor allem bezieht er sich auf die Fundregion der Textvorlage, auf das südliche Bayern.
Die Nummer 7, „Floret Silva“ vollzieht in seinen zwei Teilen den Wechsel vom Lateinischen (Strophe 1) ins Mittelhochdeutsche (Strophe 2). Das folgende Lied Nr. 8, “Chramer, gib die Varwe mir” (Krämer gib die Farbe mir), bezieht sich in der ursprünglichen Textfassung auf Maria Magdalena und ihr sündiges Leben vor der Begegnung mit Jesus. Orff allerdings gibt den Zeilen einen ganz anderen Kontext und wendet sie positiv: Sie stehen bei ihm für die im Frühling neu erwachte, gutgelaunte Lust einer Frau, die mit Freude die jungen Männer verführt. Thematische Bezüge zum Christentum sind hier nur zufällig vorhanden, ohne Einfluss auf die inhaltliche Entwicklung.
Die Nummer 9 mit dem Titel „Reigen“ nimmt eine Sonderrolle innerhalb der Carmina Burana ein. Sie ist in vier Teile gegliedert, die an eine Sinfonie im Kleinformat erinnern, 1. Satz: „Reie“, instrumental, langsam, C-Dur; 2. Satz: „Swaz hie gat umbe“, schnell, a-Moll und A-Dur; 3. Satz: „Chume, chum Geselle min“, langsam, C-Dur, 4. Satz: Wiederholung des zweiten Satzes „Swaz hie gat umbe“. Die Sätze 2 und 3, beide auf Mittelhochdeutsch, treten in einen Dialog der Geschlechter. Hatten Mädchen und Jungen vorher beide für sich von der Liebe gesungen, gehen sie nun mehr und mehr aufeinander zu und fordern sich heraus. In „Were diu werlt alle min“ (Nr. 10) schließt der zweite Teil im Tutti mit einem homophonen Chorsatz und viel unisono-Gesang. Der mächtige Klang fasst die Begegnung zweier der Liebe zugeneigter Pole in Musik.
Vom Dorfplatz geht es nun ins Wirtshaus, „In Taberna“ ist die Überschrift des nächsten Teils, in dem die Frauenstimmen schweigen. Der Bariton-Solist setzt sich zu Beginn, erneut auf Latein, wie in einer Opernarie voll in Szene. Der Schwan, der währenddessen über dem Feuer gebraten wird, jammert, verkörpert vom Tenor-Solisten, vergeblich um sein Leben. Denn die vom Männerchor verkörperten Trinkgenossen rufen lediglich den Kellner herbei, der den kross gebratenen Schwan servieren soll.
Als nächstes spielt sich der Bariton als Abt des Würfelspiels auf. Jeder, der mit ihm spielt, wird ausgeraubt und ruft „Wafna“, „Haltet den Dieb“ bzw. „Zu den Waffen“.
Jetzt kommt endlich die gesamte Kundschaft der Taverne zum Einsatz, gesungen vom Männerchor: Sie trinken auf alles und jeden, der ihnen nur in den Sinn kommt; dreizehn Personengruppen zählen sie auf und anschließend noch diese und jene, die alle mitsaufen sollen. Schnell wird klar: Beim Besäufnis sind alle gleich, unabhängig von Religion, sozialem Stand, Geschlecht oder Beruf. Dieses allgemeine lustvolle Trinkgelage schließt den Mittelteil der Carmina Burana ab.
Nun folgt der dritte Teil, „Cours d’Amours“, der Hof der Liebenden. In Nr. 15, „Amor volat Undique“, haben Kinderchor und Sopran-Solo ihren jeweils ersten Auftritt. Der Kinderchor singt unisono und quasi solistisch und läutet den dritten Teil mit drei solistischen Liedern ein. Zunächst die Rolle der begehrenswerten Frau, die sich unschuldig gibt und dennoch subtil ihre Absichten klarmacht (Nr. 15). Dann tritt ein Mann auf, der dringend einen Kuss von der Frau fordert, die er begehrt (Nr. 16). Und schließlich ist da ein Mädchen, das sich küssen lässt oder dazu einlädt (Nr. 17). Orff baut aus den Geschichten der Carmina Burana also eine in sich stimmige Handlung um Liebe, Lust und Begierde, auch wenn die Gedichte sich ursprünglich nicht aufeinander beziehen. Darauf folgt Nr 18, „Circa mea pectora“, eine Art Duett des gegenseitigen Begehrens und Verweigerns, das vom Bariton gemeinsam mit dem Männerchor und dem Frauenchor bestritten wird.
Nummer 19 „Si puer con puellula“, setzt eine Jungenrunde in Szene, die mutmaßt, was wohl passiert, “wenn Knabe und Mägdelein verweilen im Kämmerlein” . Die Antwort: “Seliges Beisammensein!” Dieser sehr intime Moment kommt in einem schmachtenden a-capella Stück des Männerchors zum Ausdruck, die Instrumente schweigen.
In Nummer 20, “Veni, veni, venias”, wird es konkret: Männliche draufgängerische Lust und weibliche zögernde Hingabe in einem rhythmisch synkopierten Wechselgesang von Frauen- und Männerstimmen. In Trutina (Nr. 21) ist ein erneutes kurzes Innehalten, musikalisch umgesetzt durch die sehr ruhige, leise Arie der Sopranistin, nur damit direkt im Anschluss Nr. 22 “Tempus est iocundum” (Lieblich ist die Zeit) genau dort anknüpfen kann, wo uns die Nr. 20 zurückgelassen hat: laut und schnell, erregt und voller Leidenschaft. Nicht nur inhaltlich gibt es jetzt kein Halten mehr. In „Tempus est Iocundum“ zeigt sich die Prise Verrücktheit, die Orff seinem Werk beigefügt hat. Taktwechsel und Betonungsverschiebungen erzeugen spannungsreiche Wiederholungen und Kontraste, Dynamik- und Tempi-Unterschiede setzten besondere Akzente.
Die Nummer 23 “Dulcissime” ist das letzte Solo-Lied, die Sopranistin singt eine lange Kadenz, beinahe eine einzige Verzierung, erreicht einen erwarteten Spitzenton und macht dann noch einen Sprung um einen unerwarteten und damit noch wirkungsvolleren Höhepunkt zu erreichen. Die gegenseitige Werbung von Mann und Frau umeinander ist damit abgeschlossen.
Es folgen noch zwei Lieder, zunächst „Ave formosissima“, unter der Überschrift „Blanziflor et Helena“. Die große Besetzung feiert laut, gemessenen Tempos und mit vollem Genuss den Moment der erfüllten Lust und des endlich erreichten Ziels. Doch die Erfüllung währt nur kurz.
Im letzten Stück schwingt das Rad des Schicksals, der Fortuna, wieder zurück auf den Anfang, die Nr. 25 ist identisch mit der Nr. 1. Verzweiflung und Schicksalsergebenheit eröffnen und beenden die „Carmina Burana“. Das Werk schließt also mit einer Reprise und schafft so einen Rahmen, der das Lied der Fortuna noch lange als Ohrwurm nachklingen lässt.