Kleine große Kammermusik:
Gioachino Rossini, Petite Messe solennelle (1863)
Die Petite Messe solennelle von Gioachino Rossini ist eine der bemerkenswertesten Vertonungen des katholischen Messtextes, sowohl mit Blick auf die Umstände ihrer Entstehung als auch auf ihre musikalische Gestalt.
Sie changiert zwischen Rossinis „erster Natur“ als hoch gerühmter Komponist komischer Opern und einer tiefen Religiosität; zwischen Heiterkeit, feiner Ironie und religiösem Ernst. Diese Mischung war im 19. Jahrhundert besonders dem kirchlichen Milieu in Deutschland verdächtig, womöglich mit ein Grund für die kaum vorhandene Aufführungstradition der Messe.
„Das ist keine Kirchenmusik für euch Deutsche, meine heiligste Musik ist doch nur immer semi seria [halb ernst]“, sagte er über das Stück und „Lieber Gott – voilà, nun ist diese arme kleine Messe beendet. Ist es wirklich heilige Musik [musique sacrée], die ich gemacht habe oder ist es vermaledeite Musik [sacrée musique]?
Ich wurde für die Opera buffa geboren, das weißt Du wohl! Wenig Wissen, ein bisschen Herz, das ist alles. Sei also gepriesen und gewähre mir das Paradies.“
Ungewöhnliche Besetzung
Die ungewöhnliche Besetzung für zwei Klaviere (von denen eines lediglich verstärkende Funktion hat) und Harmonium erklärt sich aus den besonderen Bedingungen der Uraufführung: Rossini komponierte die Messe für die Einweihung der Privatkapelle eines befreundeten Pariser Grafenpaares. Hier war kein Platz für große Chor- und Orchestermassen, wie sie in ganz Europa typisch für das 19. Jahrhundert waren, etwa in den Werken von Hector Berlioz.
Für Rossini war diese Besetzung offenbar besonders charmant. Sie führte zur musikalischen Gestaltung des Messtextes unter größter kompositorischer Ökonomie. Das Wörtlein „petite“ (klein) im Titel ist ironisch zu verstehen, immerhin dauert die Messe 90 Minuten. Es konterkariert aber auch den musikalischen Größenwahn seiner Zeit, in der alles mindestens „grande“ (groß) zu sein hatte. Rossini sah hier die Möglichkeit, den Sängern viel Raum zu geben und seinen ganzen melodischen Einfallsreichtum zu zeigen.
Sein späteres Arrangement für Orchester geht in erster Linie auf die Sorge zurück, dass diese Arbeit nach seinem Tod jemand anderes in einer Weise machen könnte, die dem Werk nicht gerecht wird: „Es geschieht nur, um dem hiesigen Herrn Sax und seinen Freunden nicht in die Hände zu fallen. Ich führte nämlich die Partitur dieser bescheidenen Arbeit schon vor einiger Zeit aus; findet man dieselbe nun in meinem Nachlaß, so kommt Herr Sax mit seinen Saxophonen oder Herr Berlioz mit anderen Riesen des modernen Orchesters, wollen damit meine Messe instrumentieren und schlagen mir meine paar Singstimmen tot, wobei sie auch mich glücklich umbringen würden. […] Ich bin daher nun beschäftigt, meinen Chören und Arien in der Weise, wie man es früher zu tun pflegte, ein Streichquartett und ein paar bescheiden auftretende Blasinstrumente zu unterlegen, die meine armen Sänger noch zu Worte kommen lassen.“
1863 als Opernkomponist bereits verstummt
1863, als Rossini die Messe fertig stellte, war er bereits viele Jahre als Opernkomponist verstummt. Mit nur 37 Jahren, nach der Komposition von „Wilhelm Tell“, erklärte er seine höchst erfolgreiche Opernkarriere in Italien und Frankreich für beendet. Es folgten Jahre der körperlichen und seelischen Beschwernisse, die sich erst nach dem Umzug in eine Villa im Pariser Vorort Passy besserten, wo er einen regen Austausch mit Künstlern und Intellektuellen aus ganz Europa pflegte. Rossini widmete sich in dieser Zeit vor allem der Komposition kleinerer und geistlicher Werke, die er in seiner 13-bändigen Sammlung „Péchés de vieillesse“ (Sünden des Alters) ordnete.
Die Petite Messe solennelle bezeichnete er als „leider letzte Todsünde seines Alters“. Heute sind diese Stücke selten aufgeführt, bieten aber einen Schlüssel zum Verständnis der Petite Messe solennelle: Der musikalische Humor spielt hier eine Rolle, aber auch die Beschäftigung mit dem italienischen und dem französischen Stil der Zeit, die in der Messe reflektiert werden.
Rossinis frühes Opernschaffen stand in der Tradition des Belcanto und führte sie zu einem Höhe- aber auch Schlusspunkt. Diese hoch virtuose Gesangstechnik, die eine absolute Beherrschung der Stimme und des Atems fordert und besonders von den Kastratensängern zur Perfektion geführt wurde, beförderte den Aufstieg Italiens zur großen Opernnation Europas bis weit ins 19. Jahrhundert hinein.
Wandel der musikalischen Ästhetik im 19. Jahrhundert
Die musikalische Ästhetik im 19. Jahrhundert wandelte sich jedoch grundlegend, einerseits im Bereich der Oper: Immer größere Orchester und die durch Neuerungen im Instrumentenbau deutliche Steigerung der instrumentalen Lautstärke zwangen zu einer neuen Gesangstechnik, deren Ziel nicht die größtmögliche Beweglichkeit der Stimme war, sondern in erster Linie das Mithalten mit dem Instrumentalapparat ermöglichen sollte. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass die menschliche Stimme eine biologische Konstante ist und ohne den Einsatz elektrischer Verstärkung naturgemäß begrenzt ist, war hier eine radikale Umstellung nötig. Es wurde aber auch das verspielte Erbe des Barock als immer weniger zeitgemäß empfunden: Seit der Opernreform um Gluck stand vielmehr die tief empfundene, mehr oder weniger schlichte Melodie mit dramatischer Spannung im Vordergrund, was insbesondere in Frankreich Widerhall fand.
Auch die Kirchenmusik durchlief einen gravierenden Geschmackswechsel, der sich vor allem in der Rückbesinnung auf die Ideale der Vokalmusik des 16. Jahrhunderts zeigte: Ein mehrstimmiges Geflecht, das nach außen hin jedoch ruhig und schlicht wirkt und den Text verständlich hält. Auch dies steht im Widerspruch zu virtuosen Koloraturen.
Mit diesen Tendenzen setzte sich Rossini in produktiver Weise auseinander. Er fand vor allem in „kleinen“ Formen und dem geistlichen Repertoire ein geeignetes Experimentierfeld. Im Bereich der Oper übernahmen nun andere den Führungsstab. Rossini blieb jedoch hoch verehrt, besonders natürlich in Italien: Nach seinem Tod versammelte Giuseppe Verdi die zwölf bedeutendsten Komponisten Italiens, um in Kooperation eine „Messa per Rossini“ zu schreiben. Die Aufführung kam damals nicht zustande, aber Verdis Beitrag fand später Eingang in seine Vertonung des vollständigen Requiem-Textes.
Musikalische Widmung an den Freund Louis Niedermeyer
Auch in Rossinis Messe findet sich eine musikalische Widmung: Der Mittelteil des Kyrie, das „Christe eleison“, ist eine lediglich umtextierte Fassung des „Et incarnatus“ aus der Messe solennelle von Louis Niedermeyer. Dieser war ein Freund und Kollege Rossinis und Lehrer u.a. von Camille Saint-Saëns und Gabriel Fauré. Er starb 1861, also kurz vor der Fertigstellung der Petite Messe solennelle im Jahr 1863. Dass Rossini den Satz unverändert in seine Messe aufnimmt, zeugt nicht nur von einem entspannten Verhältnis zu Urheberrechtsfragen (mit keinem Wort erwähnt er die Einfügung), sondern stellt eine Verneigung vor dem Freund und dem typischen kirchenmusikalischen Stil der Zeit dar, dessen Inspirationsquelle die Musik der Renaissance war.
Neben harmonischen Kühnheiten und rhythmischen Begleitmustern vor allem im Klavier, die teils auflockernd, teils streng wirken, ist vor allem auch der Einfluss Johann Sebastian Bachs erkennbar. Ausgedehnte Chorfugen beschließen das Gloria und das Credo und erfordern eine kompositorische Technik, die für eine Opera buffa nicht unbedingt erforderlich sind. Rossini hat sich in seinen späten Lebensjahren intensiv mit Bach auseinandergesetzt, auch war er Subskribent der Gesamtausgabe seiner Werke.
Im Aufbau der Messe ist besonders der Teil nach dem Credo auffällig. Die Musik zur Gabenbereitung im Gottesdienst, das Offertorium, ist ein ausgewachsenes Klavier-Solostück mit dem Titel „Prélude religieux“. Es schließt sich ein kurzes „Ritournelle“ für Harmonium an, das in die Tonart des Sanctus überleitet, das vom Chor a cappella gesungen wird. Dem schließt sich ein Gesang zum Abendmahl mit dem Titel „O salutaris hostia“ an, der besonders in Frankreich häufig Teil von Messvertonungen ist.
Eine historische Wegmarke in der Geschichte der Messe gibt es noch: Alessandro Moreschi, einer der letzten Kastraten, der vor dem Verbot dieser Praxis im Jahr 1903 im päpstlichen Chor der Sixtinischen Kapelle sang, ist gleichzeitig der einzige, von dem eine Tonaufnahme existiert. Unter den aufgenommenen Stücken ist auch das „Crucifixus“ aus Rossinis Petite Messe solennelle. Es ist eine Ironie der Geschichte, wenn man auf die humorvolle Beschreibung der Messe durch Rossini blickt: „Zwölf Sänger von drei Geschlechtern – Männer, Frauen und Kastraten – werden genug sein für ihre Aufführung, d.h. acht für den Chor, vier für die Soli, insgesamt also zwölf Cherubine“.
Neu: Frauen und Männer singen gemeinsam
Interessant an diesem Ausspruch ist, dass offenbar Frauen und Männer gemeinsam sangen, bis ins 20. Jahrhundert hinein eigentlich ein No-Go für die Kirchenmusik, die dem Satz des Apostels Paulus, die Frau möge in der Gemeinde schweigen, folgte. Dieser Punkt, das „Prélude religieux“ (ein per se weltlicher Titel), die ironische Tempobezeichnung „Allegro cristiano“ [christliches Allegro] im Credo – vieles deutet darauf hin, dass es sich bei der Messe ursprünglich nicht um liturgische Musik handelte. Offenbar war die Einweihung der Privatkapelle kein Gottesdienst im strengen Sinne. Die musikalische Tiefe des Werkes bestätigt jedoch den Ausspruch Rossinis, dass er „mit wahrer Liebe zur Religion gearbeitet“ habe.
Die Petite Messe solennelle als kleine große Kammermusik ist eines der facettenreichsten und ungewöhnlichsten geistlichen Werke Rossinis und des 19. Jahrhunderts überhaupt. Auch wenn sie unter befreundeten Komponisten begeistertes Echo fand, war ihr nicht ansatzweise der Publikumserfolg von Rossinis Opern beschieden – offenbar traf das Werk nicht den ästhetischen und religiösen Massengeschmack. Daher hat eine heutige Aufführung immer noch den Beigeschmack einer (Neu-)Entdeckung, was sie umso reizvoller macht.
Johannes Stolte